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Elena Willi

Wir alle sind Sammelbände

Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier


Zu gerne würde ich gerade in einem Nachtzug nach Lissabon sitzen. Mein Fernweh ist gross - das ist es eigentlich immer. Spätestens einen Tag nachdem ich aus den Ferien zurückgekommen bin, ist es wieder da. Aktuell musste mein Fernweh schon viel aushalten, weil die letzte Reise gefühlt schon ewig her ist.


Zum Glück gibt es aber Bücher, die einen in eine andere Welt, in die Gassen einer anderen Stadt entführen können. Und plötzlich sitze ich nicht mehr auf meinem Bett in meinem Zimmer, sondern streife mit Mundus aus Pascal Merciers Roman Der Nachtzug nach Lissabon zuerst durch Bern, dann durch Portugals Hauptstadt.





Mundus ist 57 Jahre alt, Gymnasiallehrer und ein verlässlicher, ernster Mann, der sich eines Tages selbst überrascht. In 30 Jahren Unterrichten war er kein einziges Mal unpünktlich, bis er an einem Morgen statt am Lehrerpult im Zug sitzt. Plötzlich ist auch Mundus nicht mehr einfach der Gymnasiallehrer aus Bern, sondern ein Weltenbummler.


Die portugiesische Sprache hat sich in seinen Gehörgang und von da aus direkt in sein Herz geschlichen. Das Buch vom portugiesischen Arzt Amadeu Inácio de Almeida Prado löst etwas in ihm aus, dass er sich selber nicht recht erklären kann. Mundus weiss nur, dass er den Urheber und Schmied dieser Worte finden will.


Zugegeben, ich habe etwas geflunkert, als ich vom Lesen dieses Buches berichtet habe. Denn eigentlich habe ich es gar nicht zu Hause auf meinem Bett, sondern im Urlaub gelesen und das schon vor einiger Zeit. Ich weiss aber noch genau, wie mich Merciers Worte direkt nach Lissabon katapultiert haben.


In Wahrheit sass ich jedoch auf einer Steinbank im Norden Italiens, in einem kleinen Dorf indem meine Verwandten leben. Die Zeit vergass ich komplett, als ich so mit Mundus im Zug und schliesslich über die Plätze Lissabons lief. Die Sommersonne brannte auf mich nieder und als ich die Hitze irgendwann nicht mehr aushielt, lief ich zurück in die Richtung unserer Ferienwohnung.


Doch bevor ich angekommen war, kam mir aufgebracht meine Mutter entgegen. Meine Familie hatte sich Sorgen gemacht. Denn sie hatten nicht gewusst, wo ich genau hingegangen war.


Die Aufregung überraschte mich. Ich wollte bloss einige Stunden in meinem Buch versinken und mit Mundus oder Raimund Gregorius, wie sein voller Name lautet, auf die Suche nach dem Erschaffer der berührenden portugiesischen Worte gehen.


Ich sah meine aufgebrachte Mutter an, die Zeilen aus Merciers Buch noch im Kopf: «Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen», zitiert Mercier den Philosophen Michel de Montaigne im Roman.


Wie ich später herausfand, war meine Mutter vor allem aufgebracht, weil es mein Grossvater war. Er war der Meinung, sie hätte mich nicht so alleine weggehen lassen dürfen. Seine väterliche Autorität hatte aus meiner Mutter wieder ein Kind gemacht. Es ist eine der vielen Seiten von ihr, die ich (wenn überhaupt) nur selten zu Gesicht bekomme.


Wie gut kennen wir die Menschen, mit denen wir tagtäglich umgeben sind? Wie viele der unendlich vielen Teile sehen wir, können wir erahnen oder uns überhaupt vorstellen?


Ich denke, wir alle sind Sammelbände aus unendlich vielen Geschichten. Manche dieser Geschichten kennen wir wohl nicht einmal selbst. Das schöne ist, dass wir uns so selbst überraschen können. Wir können Dinge tun, die wir nie für möglich gehalten hätten. Sich ab und zu daran zu erinnern, tut gut.


Kürzlich habe ich eine Statistik Prüfung geschrieben, die zu bestehen, ich lange für undenkbar gehalten habe. So wurde ich eines besseren belehrt und überraschte mich selbst: Ich habe bestanden und beim Lernen, sogar ab und zu Freude verspürt. Was ich damit sagen will: Es ist alles in uns, für manche Seiten müssen wir nur tiefer graben.


Tschäse & Bussi

Elena



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