Grenzgänge von Pajtim Statovci
«Identitäten sind wie Kaugummi», denke ich. Kleben sie einmal an dir, probierst du sie wieder loszuwerden, verhedderst du dich nur noch mehr in ihnen. Seitdem ich «Grenzgänge» von Pajtim Statovci gelesen habe, geht mir der Vergleich nicht mehr aus dem Kopf. Die Frage, ob wir unsere Identität beliebig verändern können, stellt sich auch Bujar, der Protagonist des Romans.
Bujar wächst in den 90er Jahren in einem Dorf bei Tirana, der Hauptstadt Albaniens, auf. Neben den politischen und familiären Unruhen, sind es vor allem die inneren Konflikte Bujars, die mich in die Geschichte mitreissen. Können wir uns aussuchen, wer wir sein wollen, wenn wir von unserer Heimat weggehen? Was hat die Welt, ausserhalb der Strassen Trianas, sonst noch zu bieten? Diese und viele weitere Fragen stellt sich Bujar, stellt die Geschichte ihren Leser*innen.
Der Autor, Pajtim Statovci, ist selbst in Albanien geboren, die ersten zwei Jahre seines Lebens verbrachte er im Kosovo. Danach floh er mit seiner Familie nach Finnland, wo er heute lebt und schreibt. Obwohl es zwischen dem Leben von Statovci und dem der Romanfigur Bujar Berührungspunkte gibt, ist das Buch keine Autobiografie. Normalerweise publiziert Statovci auf Finnisch, «Grenzgänge» ist sein erstes ins Deutsche übersetzte Werk und hoffentlich nicht das Letzte.
Statovci vereint so einiges auf den 320 Seiten: Patriarchale Familienstrukturen, Fluchterfahrungen, Missbrauch, Transsexualität und Liebe. Und irgendwie scheint alles immer wieder auf die Frage danach, wer wir sein können, zurückzukommen.
Das Buch ist eine Sammlung von Episoden, von denen sich nur ein Teil in Albanien abspielt. Der Rest ist verteilt auf Italien, New York, Spanien, Deutschland und Finnland. So startet die Geschichte auch mitten im Leben Bujars in Italien, einem der Zwischenstopps auf seiner Reise. Schnell ist klar, dass es sich hier um eine Identitätsgeschichte handelt: «Ich bin ein Mann, der keine Frau sein kann, der aber manchmal aussehen kann wie eine Frau, wenn ich es will.»
«Man kann nicht einfach beschliessen, nicht der zu sein, als der man geboren wurde.»
Von Italien, reisen wir zurück in der Zeit nach Albanien. Bujars Kindheit und Jugend werden geprägt von den Geschichten über heldenhafte Kämpfer Albaniens, die ihm sein Vater erzählt. Sie porträtieren das Bild einer «Männlichkeit», die stark und ehrenhaft ist. Die Geschichten brennen sich in Bujars Kopf ein, wo sie auch bleiben, als er seine Familie längst verlassen hat.
Mit seinem Freund Agim plant Bujar sein Weggehen. Nach ihrer Flucht trennen sich ihre Wege und Bujar reist alleine durch die Welt, manchmal als Frau, manchmal als Mann. Die innere Zerrissenheit Bujars, spaltet dabei manchmal auch seine Beziehungen.
Die Sprache der deutschen Übersetzung von Stefan Moster gefiel mir beim Lesen sehr: Sie ist klar und deutlich, dennoch bleibt sie sanft, indem sie Dinge unerzählt lässt. Die Beschreibungen der Orte zeichneten hingegen konkrete Vorstellungen in meinen Kopf: die belebten Strassen Tiranas, die Hitze Roms und den kalten Wind Oslos, konnte ich sehen und spüren.
Die Suche nach dem Selbst ist eine, die nicht nur Bujar, sondern auch mich herumtreibt. Vielleicht nimmt dieser Umstand wieder ab, wenn ich das Ende meiner 20er erreicht habe? Für den Moment aber stelle ich mir oft die Frage, wie frei wir darin sind, zu sein, wer wir wollen.
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